energate News: "Wer heute erklärt, Wasserstoff sei tot, ignoriert die Fakten"
Brüssel (energate) - In den vergangenen Wochen und Monaten mehren sich die schlechten Nachrichten aus dem Bereich Wasserstoff. Das gilt aber vor allem für Deutschland. In anderen Ländern wie China oder Indien sieht das ganz anders aus. Während Deutschland in der Debatte oft auf alte Zielmarken und Herausforderungen fixiert ist, zieht der Rest der Welt an uns vorbei, sagt Jorgo Chatzimarkakis, CEO Hydrogen Europe. Die Hoffnung auf einen schnellen Hochlauf hat er allerdings noch lange nicht aufgegeben.
Ein Gastkommentar von Jorgo Chatzimarkakis, CEO Hydrogen Europe
Jüngst war in einem Beitrag auf einem Onlineportal als plakative Überschrift zu lesen, dass beim grünen Wasserstoff viele Ziele verfehlt worden seien. Dieser Satz wirkt klar, präzise, endgültig - aber er erzählt nur die halbe Wahrheit, obwohl er faktisch richtig ist. Ja, die Ziele der deutschen Wasserstoffstrategie wurden bislang nicht erreicht. Doch was haben wir eigentlich damals beschlossen - und was brauchen wir heute, um die Ziele noch zu "retten"?
Wasserstoffstrategie 2022 während Energiekrise
Ein Blick zurück: Die Wasserstoffstrategie wurde 2022 unter dem Eindruck des russischen Angriffs auf die Ukraine verabschiedet. Die Gaslieferungen aus Russland brachen zusammen, die Bilder von explodierenden Pipelines und leeren Tanks prägten die Stimmung. Im politischen Berlin regierte die Angst. Die Ampelregierung suchte verzweifelt nach Wegen, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Die Energieversorgung sichern und zugleich die Klimaziele retten. Man glaubte damals, dass man mit hohen Zielmarken für grünen Wasserstoff beides erreichen könne: die fossile Abhängigkeit beenden und das Klima schützen.
Strategie an Realität anpassen
Heute aber wissen wir: Diese normativ überambitionierte Strategie war ein Kind des Ausnahmezustands. Sanktionen haben Russland nicht entscheidend geschwächt. Europa bezieht weiter fossile Energie, nur jetzt noch teurer und weniger planbar. Mit dem jüngsten Zoll-Deal mit den USA wächst die Abhängigkeit von amerikanischem LNG. Die damaligen Ziele sind also nicht falsch, aber sie waren von einem politischen und geopolitischen Moment geprägt, der längst vorbei ist. Und genau deshalb führt die Debatte, wie sie derzeit in Deutschland stattfindet, am Kern des Ganzen vorbei. Statt die Strategie an die Realität anzupassen, wird fatalistisch herbeigeschrieben, dass es Wasserstoff nie in der benötigten Menge geben werde und dass er so oder so zu teuer sei. Statt die Chancen zu sehen, reden wir uns den Wasserstoff schlecht.
China und Indien ziehen an Deutschland vorbei
Dabei zeigt der Blick über Europa hinaus, wohin die Reise wirklich geht. China hat eine nationale Wasserstoff-Offensive gestartet, die jeden europäischen Ansatz in den Schatten stellt. Provinzen müssen H2-Projekte von mindestens 100 MW aufsetzen, inklusive Infrastruktur wie Pipelines. Innerhalb von drei Jahren sollen Ergebnisse geliefert werden. Es ist das gleiche Drehbuch, mit dem China in den 2000er-Jahren die Solarindustrie dominierte - mit staatlichem Druck, Investitionen und Geschwindigkeit.
Auch Indien setzt längst auf Taten statt Worte und energiepolitischen Fatalismus in Sachen Wasserstoff. Die nationale Energieagentur SECI hat inzwischen sieben Auktionen abgeschlossen. Über 400.000 Tonnen grüner Wasserstoff und Ammoniak pro Jahr sind bereits vergeben - zu Preisen von teils unter 500 Euro pro Tonne. Das ist kein Pilotprojekt mehr, das ist Massenmarkt. Während Europa also darüber streitet, ob grüner Wasserstoff überhaupt eine Zukunft hat, ziehen China und Indien den Hochlauf durch und hoch.
Wasserstoff unerlässlich für Resilienz
Wer heute also erklärt, Wasserstoff sei "tot", ignoriert die Fakten. Die Branche wächst weltweit schneller als die Solarindustrie in ihren Anfangsjahren. Und sie wächst in einem Maßstab, der Europa schon bald erneut zum Zuschauer machen könnte. Was wir brauchen, ist deshalb kein Zurück zur Panik von 2022, sondern ein Schritt nach vorn - hin zu einer Strategie der Resilienz. Wasserstoff ist dafür zentral, und zwar nicht als Heilsbringer, sondern als Baustein in einem Gesamtsystem. Denn die eigentliche Aufgabe lautet: Europa muss sich gegen Energieabhängigkeiten wappnen, gegen geopolitische Erpressung, gegen Preisexplosionen. Resilienz bedeutet: mehrere Lieferwege statt nur einer Quelle. Es bedeutet, Wasserstoff nicht nur als Klimaschutz-Instrument zu begreifen, sondern als Industriepolitik, als Sicherheitsstrategie, als geopolitische Versicherung.
Deshalb braucht es jetzt eine Resilience-Alliance: ein Bündnis von Politik, Industrie und internationalen Partnern, das ein europäisches Wasserstoff-Rückgrat aufbaut. Nicht in kleinteiligen Projekten, sondern grenzüberschreitend. Nicht im Klein-Klein der Regulierung, sondern mit der klaren Mission: bezahlbare, sichere und saubere Energie für Bürger und Unternehmen. Die Kernpunkte liegen auf der Hand:
• Wasserstoff ist Klimaschutz und Industriestrategie zugleich.
• Die EU hat viele Programme gestartet, setzt sie aber zu langsam und zu fragmentiert um.
• Abhängigkeit von einer Quelle darf es nicht mehr geben.
• Regeln und Investitionen müssen praxisnah und kostensenkend gestaltet werden.
• Große Industrieabnehmer und internationale Partner gehören von Anfang an mit ins Boot.
Das ist die eigentliche Diskussion, die wir führen müssen. Nicht: Warum haben wir alte Zielmarken nicht erreicht? Sondern: Wie sichern wir unsere Zukunft, wenn die Welt sich weiter so schnell verändert? Die Wahrheit ist: Wir stehen nicht im Zeitalter der Panik, sondern am Anfang des Zeitalters der Resilienz. Wer das begreift, wird Wasserstoff nicht schlechtreden, sondern als das sehen, was er ist: ein Schlüssel, um Europa klimaneutral, unabhängig und wettbewerbsfähig zu machen.